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        Eugen Maul         

 

TERRA ABSURDA
(Manuskript eines Gefangenen)

Mitte der Achtziger Jahre entschlossen sich meine entfernten Verwandten, in die weiten Steppen Kasachstans deportierte Wolgadeutsche, ihrer sowjetischen Heimat den Rücken zu kehren. Dutzend Hennen wurden gegen vier Flaschen Schnaps getauscht, der Hund an die Nachbarn verschenkt, die einzige Kuh auf dem Markt verkauft. Vom Erlös für den Kuhverkauf erfühlte sich der Hausherr seinen lang gehegten Wunsch: man kaufte ihm in der Rayonstadt ein schwarzes mongolisches Ledersakko, den Inbegriff der damaligen Mode für den respektablen Mann. Das Geld reichte knapp. Mit den alten abgenutzten Koffern, in denen penibel Kleider, Unterhosen, Socken und Geschirr eingepackt waren, mit dem riesigen einer Dampflokomotive ähnelnden Samowar  und im blitzblanken mongolischen Leder ging es alsdann schnurstracks nach Deutschland, das sagenumwobene Land der Urgroßväter.
Wenig später wurde ich zu meinem Erstaunen in die KGB-Zentrale nach Moskau geladen. „Haben Sie Verwandte im Westen?“ fragte mich im dritten Stock der Lubjanka ein rotnasiger Hauptmann mit quietschender Stimme. Ich begann nervös auf dem Stuhl zu rutschen. Das verheißt nichts Gutes, dachte ich und sagte etwas zögerlich: „Ja, hab’ ich“. „Na schön, dann wissen Sie gewiss, dass diese Leute für das westliche Spionagenetz arbeiten“, fuhr der KGB-Offizier mit den bohrenden Augen fort. Ich machte den Mund auf und war im Begriff aufzuschreien, doch der Schrei blieb mir im Halse stecken. Ich saß schweigend da, in den Gedanken ein Wirrwarr, eine Wüste in der Kehle. Ich konnte keinen Laut hervorbringen, starrte den Mann an und rutschte vor Nervosität auf dem Lederstuhl. Hin und her, hin und her. Bis darin durch das Reiben meines Hinterteils ein Loch entstand. 

„Wir haben Informationen, dass ihre Verwandten mit Ihrer Hilfe in Besitz von staatsgeheimen Luftaufnahmen und Bodenproben vom sowjetischen Kernwaffentestgelände im ostkasachischen Semipalatinsk gekommen waren und dies alles über die Grenze nach Deutschland geschmuggelt haben“, schleuderte mir der Hauptmann die Worte ins Gesicht. Die Worte aus schwerem Stein, so kam es mir vor. Nach einer unmenschlichen Anstrengung drückte ich aus mir heraus: „Na-a-a-i-i-n! Es ist ein Irrtum! Ich habe nicht das Geringste damit zu tun!“ Der Rotnasige erwiderte: „Und ob Sie damit zu tun haben. Sie sind ja ein Landvermesser und waren schon vielerorts beruflich unterwegs.“ Ich schüttelte den Kopf. „Aber ich war noch nie in Semipalatinsk... Und meine Verwandten... Sie sind ängstliche Bauern aus einer Kolchose. Ihnen wurde schon bange beim Anhören einer angeschalteten Waschmaschine und Anblick eines Taschenrechners. Und Sie sagen „Spione“!“ Die müssten wohl bei der Ausreise eine Handvoll Heimaterde – es ist ein Brauch in Russland  – und ein paar Bilder von der Steppenlandschaft mitgenommen haben. Das Gesicht des Hauptmanns verzerrte ein zynisches Lächeln – er schien seine Macht zu genießen.  Selbstsicher drückte mir der KGB-Mann einen Kugelschreiber in die Hand: „Unterschreiben Sie das Geständnis. Sie sind ein Staatsfeind, ein Agent des kapitalistischen Westens!“ Ich schnappte nach Luft und sank immer tiefer ins Loch in meinem Stuhl  hinein: „Nein! Ich bin kein Spion!“ Mein Kontrahent entgegnete selbstzufrieden, dass ich doch einer bin aber dies womöglich noch nicht weiß.

Ich erwehrte mich jedes Drucks das „Geständnis“ zu unterzeichnen und wurde daraufhin abgeführt. In einer finsteren muffigen Kellerzelle empfingen mich mit freudigen Gesichtsausdrücken drei weitere KGB-Männer. Zum Auffrischen meines Gedächtnisses bekam ich Schläge ins Gesicht, heißes Wasser auf den Rücken und Nadeln unter die Fingernägel. Das Blut spritzte, die Haut brennte, das Fleisch kochte. Ich gab ein Geständnis ab und wurde als Heimatverräter verurteilt.

Die Jahre des „karierten Himmels“ wechselten einander. Der Wind of change fegte über das Land hinweg. Als ich die Freiheit wieder erlang, schwebten die Fetzen des sowjetischen Imperiums hoch in der Luft. Ich stellte einen Antrag auf die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland. Dieselbe wurde mir als einem Russlanddeutschen nach dem mehrmonatigen Warten zu meiner großen Freude gewährt. Mit einem Visum im Reisepass sowie dem Koffer mit Unterhosen, Socken und Büchern – darunter E. T. A. Hofmann, Daniil Charms, Deutsch-Russisches Wörterbuch, Abhandlungen über Christentum und Islam aus der Reihe „Bibliothek des Atheisten“ – begab ich mich auf eine lange, von Unannehmlichkeiten erfühlte Busreise Richtung Deutschland.

Das lang ersehnte Treffen mit dem Vaterland überstieg alle meinen Erwartungen. Der Reisebus wurde auf einem nächtlichen Rasthof in der Nähe Dresdens von den Neonazis mit Steinen beworfen. Das Rudel der kahl rasierten Jugendlichen tanzten mit Steinen und Knüppeln in der Hand um das Fahrzeug herum und bellte lautstark, was ungefähr so klang: „Wau-wau, Russen raus! Wau-wau, Russen raus, wau!“ Wir entkamen knapp. Der gelöcherte Bus rollte weiter. Der Wind sauste mir um die Ohren. Ich rutschte die restliche Strecke nervös auf dem Sessel – bis zur Entstehung eines Riesenlochs in meiner Hose – und nippte zur Beruhigung an meiner 1-Liter-Wodkaflasche „Russkaja duscha“, was sich als „die russische Seele“ übersetzen lässt.   

Angelangt im westfälischen Hamm im Aufnahmelager für deutsche Aussiedler aus Osteuropa saß ich schon bald, den Rumpf betrunken hin und her wackelnd, einem fettigen Beamten namens Koslowski in der dortigen Behörde gegenüber. Ich trommelte im Gedächtnis alle meinen Deutschkenntnisse zusammen, legte die Hand auf die Brust und sagte, die steinschwere Zunge mit Mühe bewegend: „Gu-u-u-ten Tag! Ups... Ich heißen Albert Allmann ich... Ich kommen aus Russland. Ich Freund“. Um meine freundliche Besinnung gegenüber dem Mann mit der Bauchflosse explizit zu verdeutlichen, reichte ich ihm die 1-Liter-Flasche mit dem Wodkarest, ungefähr zwei – drei Schluck, und fügte hinzu: „Bitte, gute Schnaps! Bitte... ups.“ Ich war noch nicht mit Darlegung meiner guten Absichten fertig, da sprang der Beamte schon auf. Seine Gestalt konnte jedem einen Schreck einjagen. Gesicht rot angelaufen, Backen aufgeblasen, den Ohren entwich pfeifend Dampf. Die glühenden Augen versprühten Feuerfunken, sodass meine Haare sich entflammten. „Was soll dieser Blödsinn? Sind Sie verrü-ü-ü-ü-ckt?“, sein ohrenbetäubender Schrei ließ das Glas auf seinem Bürotisch platzen. Ein Mineralwasserbächlein begann, sich den Weg durch den Papierdschungel auf dem Tisch zu bahnen. Ich klopfte aufs brennende Haar und starrte den Beamten dumm an. „Entschuldigen bitte!“ Dieser Exzess von Koslowski schien, mich aus der Gewalt des heimtückischen Bacchus zu befreien.

Der Beamte beruhigte sich und nahm wieder seinen Platz. „Und nun zur Sache“, seine Stimme zeugte von tiefer Entschlossenheit. Ich sah ihm in die Augen und sprach: „Ich heißen Albert Allmann. Ich kommen aus Russland...“ „Halt!“, unterbrach mich jäh Herr Koslowski, „Das habe ich bereits gehört. Können Sie mir außerdem noch etwas über sich offenbaren?“ Da mein deutsches Lexikon jedoch ziemlich ausgeschöpft war und vieles vom Gesagten meine Sprachkompetenz übertraf, zuckte ich die Schulter: „Ich deutsche Sprache nicht gut verstehen“. „Wie nicht gut verstehen?“ entrüstete sich soeben der beleibte Beamte, „Und Sie wollen mir weismachen, dass Sie ein Deutscher sind.“ Ich nahm zur Ermutigung noch einen Schluck Schnaps, legte die Hand auf die Brust und trug vor: „Ich heißen Albert Allmann. Ich kommen nach Deutscheland. Ich Deutsche von der Russland... ich. Ich Deutsche, aber ich deutsche Sprache nicht gut verstehen. Verstehen Sie?“ Herr Koslowski bekam wieder einen Wutausbruch: er fasste sich am Kopf, stierte auf mich und knurrte dabei: „Nein! Ich das nicht verstehen... Sprich auf Russisch! Gowori po-russki!“ 

Sein Russisch war gut, fast fehlerfrei, nur ein leichter polnischer Akzent verriet im Grunde genommen seine wahre Herkunft. „Wie können Sie behaupten Deutscher zu sein, wenn Sie die deutsche Sprache nicht beherrschen?“, setzte er im aufgeregten Gemütszustand auf Russisch fort. „Ach, Herr Koslowski, Sie wissen doch nicht schlechter als ich, dass Russlanddeutsche nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion nach Zentralasien und Sibirien vertrieben wurden. Viele kamen auf die Zwangsarbeiten. Man wurde verstreut und entwurzelt. Das sprachliche und kulturelle Kontinuum war nicht mehr gewährleistet... Und nach dem Krieg durfte man lange Zeit weder Deutsch sprechen noch die deutsche Kultur pflegen.“ Der Beamte lehnte sich zurück: „Das alles interessiert mich nicht. Wohlgemerkt haben sich die Zeiten schon seit Langem geändert. Jeder Russlanddeutsche, der sich tatsächlich Mühe nahm, beherrscht Deutsch und hat sogar eine Karriere in Russland gemacht... Für die Bundesregierung Deutschland, die ich hier vertrete, steht fest: deutsch kann nur derjenige sein, der deutsch auch wirklich beherrscht...“ Das fetthäutige glänzende Gesicht des Beamten näherte sich bedrohlich dem meinen: “ Wissen Sie, was ich stark vermute? Sie sind entweder gar kein Russlanddeutscher oder Sie haben Ihre deutsche Zugehörigkeit so wie andere Renegaten in den ungünstigen Zeiten verheimlicht“. „Aber ich kann ein wenig deutsch und ich lerne es fleißig. Und Ihr Syllogismus über Deutschsein ist schlichtweg absurd.“, versuchte ich ihm zu widersprechen.

Währenddessen stellte sich Koslowski hinter meinem Rücken auf und riss mir alsdann den Stuhl unter dem Hintern weg. Ich ging zu Boden. „Ach, Verzeihung.“ Dann trat er mir oben auf die Brust. „Entschuldigung, ich bin so tollpatschig“. Darauf ergriff ich den Fuß des fettleibigen Beamten und zog ihn an mich, worauf Koslowski seinerseits auf dem Boden landete. Im selben Augenblick wurde die Tür zum Nebenzimmer aufgerissen und ein stämmiger breitschultriger Mann stürzte sich auf mich. „Danke, Walter!“ rief ihm Herr Koslowski unter dem Tisch zu.  

Bald gesellte sich ein dritter Beamter zu ihnen und das groteske Schauspiel ging weiter. Während Herr Koslowski eine Erklärung in meinem Namen auf seiner Schreibmaschine tippte, bearbeiteten die beiden Anderen meinen Kopf mit dem örtlichen Telefonbuch. Welch ein Glück, dass ich nicht irgendwo in Berlin oder Hamburg mit zahlreicheren Abonnenten landete, sinnierte ich, als mein Haupt einen weiteren Schlag abkriegte.  „Unterschreiben Sie das“, forderte mich mein Sachbearbeiter auf, „Damit erklären Sie sich der Fälschung Ihrer Dokumente schuldig.“ Ich schüttelte entschlossen den Kopf. „Gut, wie Sie meinen. Walter, lass die Matroschka tanzen“. Daraufhin schnappte der zweite Beamte eine überdimensionale bunt gefärbte Matroschka aus schwerem Holz, höchstwahrscheinlich das Geschenk eines Aussiedlers aus Russland und begann sie mir auf die Finger zu hauen. Dabei schrie er laut „Kasatschok“ und summte die Melodie zu diesem Hit der Achtziger. Nach einer Stunde Folter mit Telefonbuch und Holzpuppe sowie Reiben eines Metallnagels an Glas der Fensterscheibe gab ich auf: „Ah-h-h! Aufhören! Gut, gut, ich bin kein Deutscher, ich bin... äh… ein Kalmyke. Na ja, was blieb mir Anderes übrig? Die Beamten atmeten mit strahlenden Gesichtern durch. „Na Jungs, wenn wir so weiter machen, werden wir noch befördert“, sagte strahlend Herr Koslowski. Vor der Tür drehte ich mich um. „Sadistische Schweine! So brutal hat man mich nur in der KGB-Hölle behandelt“, schalt ich die von ihrem Sieg trunkenen Beamten. Koslowski sprang auf: „Sind Sie ein KGB-Agent?“ „Nein, aber das hätten Sie wohl gern“, sagte ich und verließ die Folterkammer.

Völlig resigniert hing ich tagsüber im Zimmer herum, welches ich mit drei wildfremden Menschen teilen musste. Einer der Nachbarn, ein Professor und ehemaliger Leiter des Lehrstuhls für Germanistik an der Universität in Duschanbe wartete ebenso wie ich auf seine Abschiebung. Dieser Mann, der auswendig Passagen aus „Faust“ und „Nibelungenlied“ kannte, wurde auch verdächtigt ein Nichtdeutscher zu sein. Seine ausgezeichneten Deutschkenntnisse und vorbildliche Karriere erweckten bei den Beamten sofort den Verdacht einer Manipulation der Identität und Fälschung der Papiere. „Die Russlanddeutschen durften ja kein Deutsch sprechen! Ein derartiger Berufsaufstieg war auch unmöglich“, erläuterte Herr Koslowski... Tja diese Antinomie der Bürokratie.

An einem herrlichen Frühlingstag verweilten fast alle Bewohner des Übergangwohnheims nach der Mahlzeit vor dem Haus. Eine Nachmittagsidylle. Zum Mittagessen in der Kantine gab es wieder Mal Erbsenbrei und Rosenkohl. Das Gebäude und das anliegende Gelände schwebten in einer unverkennbaren Duftwolke. Ein Traktorführer vom Südural versuchte mit den Zähnen eine Bierdose zu öffnen. Ein paar Männer kratzten aus ihren Papirossy den starken Tabak heraus und kauten es anschließend. Keiner wagte, sich eine Zigarette anzuzünden. Sicher ist sicher. Letzte Woche nach einem ausgiebigen Erbsenbreimittagessen wollte ein Schweißer aus Sibirien am stillen Örtchen eine rauchen. Er zündete sich eine Papirossa an... Die Explosionswelle schleuderte ihn hoch in die Luft direkt an die Decke. Mit heruntergelassener Hose und brennendem Schnurbart flog er darauf wie eine Kanonenkugel aus der Toilette.

Vor dem Eingang hielt eine BMW-Limousine an. Der Fahrer, ein glatzköpfiger Mann um die fünfzig, fragte nach Albert Allmann. Kurz darauf saß ich schon mit meinem Koffer im flinken Gefährt. „Tja, es geht also zurück gen Osten“, dachte ich. Den ganzen Weg musste ich seltsamerweise die Binde um die Augen haben. Nach etwa einer Stunde Fahrt im Dunkel stieg ich in einer Tiefgarage aus. In einem finsteren Zimmer erwartete uns bereits ein bebrillter Mann. „Setzen Sie sich, Herr Allmann, bat er mich auf Russisch. „Oh, woher können Sie so gut Russisch?“, wunderte ich mich. „Ist unwichtig“, folgte die lapidare Antwort, „Sie waren also ein KGB-Agent“. „Nein. Ich war aber als  Agent des Westens verurteilt. Das hat der KGB aber frei erfunden“.

Es stellte sich schnell heraus, dass ich bei dem BND landete... Ich beteuerte beharrlich meine Nichtbeteiligung an jeglicher Spionage. Mein Gegenüber lächelte mich an: „Tja, Sie behaupten also mit dem KGB nichts am Hut zu haben... Wir glauben Ihnen nicht, Herr Allmann. Sie befinden sich jetzt in unserer Gewalt und wir möchten Ihnen anbieten, für unser Land gewisse Dienste zu leisten. Im Gegenzug machen wir, dass diese KGB-Sache vom Tisch ist. Ich hoffe, dass wir uns verstehen… Unterschreiben Sie bitte.“ Ich nahm das Blatt in die Hand. „Es ist eine Vereinbarung über unsere Zusammenarbeit“. Ich lehnte es entschlossen ab. Der Glatzköpfige schaute mir tief in die Augen. „Tja, dann möchten wir Ihnen eine Kur anbieten. Sie wirken ziemlich ausgelaugt… außerdem Ihr Stottern.“ Ich erwiderte: „Ich habe gar kein Stottern.“ „Seien Sie sich nicht so sicher, Herr Allmann“, folgte prompt die Antwort. Und so bekam ich überraschend eine Relaxkur verpasst. Zuerst sperrte man mich nackt in einer Kältekammer ein. „Na, fühlen Sie sich besser, Herr Allmann?“, fragte mich später zynisch der BND-Agent. „N-n-n-nein“, sagte ich. „Sehen Sie, Sie stottern!“, freute sich der Mann. Deshalb wurde ich im Anschluss einer Strombehandlung unterzogen… Ich unterschrieb alles. Was blieb mir Anderes übrig? Ich geriet ja mitten in den Wirbel der Machtspiele.

Nach einmonatiger Vorbereitung auf mein neues Dasein, während deren mir meine Mission klargemacht wurde, reiste ich unter einer falschen Identität in die GUS ein. Mein Aufgabenfeld schloss hauptsächlich die Beschaffung der Informationen ein, die in Verbindung mit der Politik Russlands im Kaukasus und in Zentralasien standen. Aber diese ganze schmutzige Arbeit – Bespitzelung, Bestechung, Fotografieren von geheimen Objekten – brachte nur Unbehagen und Angst mit sich und das Spionendasein wurde mir bald zuwider. Ich lieferte zwar weiterhin Informationen an meine BND-Vorgesetzte, jedoch statt Angaben
über das russische Militär-Know-how, welches an Armenien verkauft wird oder den politischen Einfluss Russlands auf die Regierung der Südossetischen Republik bzw. die Anzahl der russischen Soldaten an der afghanischen Grenze berichtete ich über die Weinbergflächen im Ararat-Tal, Bauweise der Nomadenjurten im Tienschan-Gebirge oder Ergebnisse der kirgisischen Fußballliga. Meine Vorgesetzten gerieten außer sich. Ihre Warnungen und darauf folgenden Drohungen ließen mich aber kalt. Ich bat mich zurückzuholen, stieß jedoch auf taube Ohren.

Der BND gab schließlich den Russen meine Identität preis. Ich wurde also an den russischen Geheimdienst FSB, den KGB-Nachfolger, verraten und musste untertauchen. Monatelang durchquerte ich die Weiten des postsowjetischen Raums. In den Güterwagen, per Anhalter, auf dem Kamel, auf Schusters Rappen. Permanent bemüht ums Finden eines sicheren Verstecks. Sümpfe Weißrusslands, Barchane der Karakum-Wüste, jakutische Taiga und Tundra. Ich war ständig hungrig, dreckig und ermattet. Eines Tages gelang mir die Flucht über den Tschudskoje-See nach Estland und von dort in den Westen.
Auf einem Parkplatz an der Autobahn A9, wo ich mich mit meinem Vorgesetzten Herrn K. verabredet hatte, kam der BND-Mann nicht allein an. Ihn begleiteten zwei CIA-Agenten, die mich ohne jede Erklärung soeben mitnahmen. Nach vier Stunden beobachtete ich schon die Wolkentürme aus dem Bullauge eines Flugzeugs auf dem Weg Richtung Westen. Auf Kuba gelandet, wurde ich unter militärischer Bewachung zum amerikanischen Stützpunkt nach Guantanamo Bay gebracht. Dort wurde mir unterstellt, als Anhänger der islamistischen Terrororganisation Al Qaida gegen die Amerikaner in Afghanistan gekämpft zu haben. Bei diversen Verhören sei mein Name aufgetaucht: Al Man. Außerdem wurde in meinen Sachen das Buch über Islam aus der Reihe „Bibliothek des Atheisten“ sichergestellt. „Ich heiße Allmann, bin nicht moslemisch und war noch nie in Afghanistan! Es ist absurd!“, schrie ich die Offiziere beim Verhör an. Ich wurde nur mit einem zynischen Lächeln beschenkt.
Ein Tag wechselte den anderen ab. Ich wurde geschlagen, mit Dreck verschmiert und für 24 Stunden in eine Metallzelle ohne jegliche Lichtquelle eingesperrt. Die Wächter ließen  mich nicht einschlafen. Man hat mich an andere Inhaftierte gekettet. Nach zwei Wochen unterschrieb ich das Geständnis... Was blieb mir Anderes übrig? 

P.S.  Diese Blätter möchte ich heimlich mit einem Mann, der bald entlassen wird, in die Freiheit zu überreichen. Wenn Sie diese Zeilen gerade lesen, wurde dieses Unterfangen vom Erfolg gekrönt. Ich hege keinerlei Hoffnung, durch einen Druck von außen entlassen zu werden. Es wäre ja eine Illusion. Mir geht es lediglich darum, Licht auf diese Geschichte zu werfen. Ich möchte, dass Menschen die Wahrheit über mich erfahren. Weiterhin wollte ich noch über eine Nachricht berichten, die mich vor einer Weile erreichte, nämlich dass Kirgisien sich um meine Auslieferung bemüht. Ich werde der Preisgabe eines großen Staatsgeheimnisses an den Westen beschuldigt, nämlich der Übermittlung von Informationen über den Bau der kirgisischen Jurte.     

 

Fotografik Gennady Dick