NEUE BÜCHER VERLAG "DEUTSCHE AUS RUSSLASND
Svetlana Sawickaya Im Rahmen eines Deutschland-Besuchs im Mai 2011 wurden für Frau Svetlana Sawickaya von den öffentlichen regionalen Medien aufmerksam beachtete Lesungen in Lippstadt (Kreis Soest) am 10. Mai, in Gütersloh am 11. Mai und in Warendorf am 13. Mai veranstaltet. Umrahmt und bereichert wurden diese Lesungen durch den Chor deutsch-russischer Vereine in Lippstadt und Gütersloh, die Autorin selbst steuerte einige, z. T. eigene Lieder bei, die sie mit der Gitarre begleitete. Im Rahmen der Lesungen gab Ulrich Engelen, bis vor kurzem Leiter eines Gymnasiums in Gütersloh und promovierter Germanist, eine kurze Einführung in das gerade erschienene Buch und in seine Begegnung mit Svetlana Sawickaya und die Zusammenarbeit mit den an der Veröffentlichung beteiligten Personen. Er führte aus: Die ersten Eindrücke unseres Gastes und der Autorin Svetlana Sawickaya sind für mich außerordentlich positiv: hinter ihrer menschlichen Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit, die umso stärker beeindruckt, als sie durch die Deutschen während des 2. Weltkrieges mehrere Familienangehörige verloren hat, zeigt sich eine erstaunliche Fülle von Begabungen und Interessen für historisch-soziale Zusammenhänge, für die Musik, den Gesang, das Klavier- und Gitarrenspiel, für die Literatur und die Produktion eigener Werke. Sie malt, zeichnet und modelliert und trifft mit leichter Hand den Kern ihrer Wahrnehmung. Aufgrund ihrer Geschichte und ihres Werkes arbeitet sie glaubwürdig und wirkungsvoll mit an der Brücke einer deutsch-russischen Kooperation. Die Tage mit ihr in Gütersloh und Umgebung, die Gespräche und wechselseitigen Anregungen waren beeindruckend und werden wohl auch in der Zukunft gute Früchte bringen. Nicht weniger beeindruckend war für mich die Zusammenarbeit mit den Übersetzerinnen, Frau Abrams und Frau Kucharenko, und dem Verleger Heinrich Dick: sie alle haben ausgesprochen engagiert, fleißig und konsequent über Monate hinweg an den russischen Texten von Svetlana Sawickaya gearbeitet und gefeilt, und ich habe ihr Engagement und ihren Willen bewundert, die Sammlung so unterschiedlicher Textbausteine mit der Fülle disparater Bilder, Formen und Ansätze zu einem Ganzen zusammenzufügen. Ausgesprochen offen und konstruktiv haben wir gemeinsam über das Werk von Svetlana Sawickaya diskutiert. Sie haben meine Anregungen zur Adaptation ans Deutsche und zur sprachlichen Glättung der Texte akzeptiert und meine teilweise ziemlich kritischen Anmerkungen produktiv aufgenommen. Besonders erfreulich war für mich, dass sich in all unseren gemeinsamen Gesprächen stets eine ausgeprägte menschliche Wärme gezeigt hat, die uns gemeinsam Kraft und Mut vermittelt hat, die Dinge zu einem guten Schluss zu bringen. Dank ist natürlich dem Gütersloher „Forum Russische Kultur“ mit ihren Vorsitzenden Franz Kiesl und Thomas Fischer zu vermitteln, ohne die die Finanzierung des Buch-Projektes kaum möglich geworden wäre und die für die Kalkulation und Verbreitung des Buches gute Ratschläge vermittelt haben. Heinrich Dick hat aus der Fülle ihm vorliegender russischer Texte mit viel Feingefühl und einem wachen Sinn für das Wesentliche ganz unterschiedliche Texte von Svetlana Sawickaya zusammengestellt und ihnen den Titel „Das Geheimnis der russischen Seele“ gegeben, einen vielleicht gerade deshalb etwas gewagten Titel, weil sich durch ihn der deutsche Leser leicht in eine Welt voll positiver Empfindungen, von Sehnsucht, Naturverbundenheit und sensibler zwischenmenschlicher Empfindungen versetzt sieht. Doch von tiefen, romantisch verklärten Gefühlen, von schwärmerischer und erfüllter Liebe, von der Schönheit der „Blauen Blume“, von rosa Schleifchen und dem Glitzern einer märchenhaften Scheinexistenz, von all den Klischees einer heilen, zurückersehnten Welt ist in Svetlana Sawickayas Buch wenig zu verspüren. Es ist im Gegenteil eine Sammlung von Texten, die in sehr unterschiedlichen Formen das zu reflektieren sucht, was russische Menschen in Vergangenheit und Gegenwart erfahren, besser: erlitten haben und erleiden, niemals allerdings ohne den Funken einer Hoffnung auf menschliche Nähe und Verlässlichkeit. Man begegnet ungeschminkter Brutalität im Umgang mit dem Schwachen und Kranken, man sieht hanebüchenen Lug und Betrug, man sieht die geschundene verlassene, gedemütigte, geschlagene und ausgebeutete Frau, das hilflos zurückgebliebene Kind – in einer Weise, die dem traditionellen Literaturverständnis eines Deutschen oft stark gegen den Strich geht, hält er doch in der Nachfolge der Poetik von Lessing und der Aufklärung Prinzipien wie Wahrscheinlichkeit und Gemischtheit der Charaktere, Konsequenz und Authentizität für die Eckpfeiler guter Bücher. Das Gespräch mit Russen und Deutsch-Russen unterstreicht indes, dass solche poetologischen Prinzipien das für viele Russen erfahrbare Lebensgefühl und ihre reale Erfahrungen kaum zu erfassen und darzustellen in der Lage sind. Für uns Westeuropäer sind manche offenbar noch heute herrschende Zustände in russischen Kranken- und Irrenhäusern, auf dem Lande und in der Großstadt, in der Schule und bei der Behandlung der Menschen, die finanziell und sozial nicht auf der Sonnenseite stehen, schier unvorstellbar – sie aber bilden den Bodensatz für das, was man letztlich in angemessener Weise die „russische Seele“ nennen mag – geschunden und leidend, unter dem Druck von Ausgebeutetsein und dem physischen Drang zu überleben, Opfer einzelner Egoisten und eines mitunter unmenschlichen, bloß bürokratisch verfahrenden Systems, Opfer auch der deutsch-faschistischen und später stalinistisch-sowjetischen Unterdrückung und Verfolgung. - Verkehrte Welt allenthalben: dort die Zigeunerin, die hemmungslos die Hilfsbereitschaft einer mitleidigen Seele ausbeutet, dort ihr Opfer, das ihrem Ausbeuter zusätzliche Hilfen anbietet. Hier die zur Schau getragene eitle Schönheit, die schnelle Liebe und das viele, viele, aber eigentlich unverdiente Geld – dort Durchtriebenheit, List und brutaler Egoismus- und auf der dritten Seite wiederum schier naive Hoffnung auf Verständnis, auf Zuwendung, auf Hilfe, schlicht auf den Mitmenschen des Vertrauens. Und doch fehlt es bei Svetlana Sawickaya nicht wenigstens an Ansätzen und Spuren der Hoffnung. Nicht Zynismus und Defätismus, sondern, wenn auch mitunter naives Streben und hilfesuchende Liebe. - Auch das macht offenbar „russische Seele“ aus. Manchmal strömen aus ihr durchaus simple „Weisheiten“, die dennoch Wege aus einem arg grauen Alltag erhoffen lassen, manchmal vorsichtige Ironie in einer Welt, die, auch wegen ihrer Schlichtheit und Armut an Kreativität und Individualität, anders kaum auszuhalten ist. Das alles, also all das, was vielleicht tatsächlich zu Recht das „Geheimnis der russischen Seele“ umgreift, ist offenkundig nicht in nur konventionellen Formen schreibbar. Vielleicht ist die angemessene Form des Duktus tatsächlich eine Mischung aus kurzen und längeren Erzählungen, Märchen, Kurzprosa-Formen, Parabeln, „Weisheiten“, die in Abfolge und Charakterzeichnung oft durchaus nicht der traditionellen abendländischen Poetik und gängigen Erwartung an Wahrscheinlichkeit und Plausibilität entsprechen. Man findet die spezifischen Brüche z. Zt. in ironischer Brechung, man staunt über märchenhafte Motive, man sieht Elemente, die an den magischen Realismus südamerikanischer Vorbilder denken lassen, man findet Spruchwahrheiten, die wohl nicht wirklich helfen, aber der mehr oder minder geschundenen Kreatur Hoffnung suggerieren. Postmoderne Vorstellungen werden greifbar. Das alles entwirft einen Gesamtkomplex unter der Überschrift „Russische Seele“, der eine aufmerksame Lektüre verdient. Das Buch und das Zusammentreffen mit Svetlana Sawickaya sowie ihren Übersetzerinnen und dem Verleger vermitteln mir auf jeden Fall eine Fülle neuer Anregungen, für die ich von Herzen dankbar bin, und neue Zugangsweisen zum Ausbau der deutsch-russischen Verständigung.
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