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Katharina Kucharenko
Auf den Spuren
der Vergangenheit der Familie
von Katharina und Paul Neufeld,
unserer Großeltern
Das einzige Foto von Paul Neufeld
19.07.1895 – 13.11.1938
Aufnahme 1914 – da war er im Dienst als Sanitäter
Oktober 2013
Vor rund 72 Jahren, im August 1941, wurde unsere Großmutter Katharina Neufeld mit Familie aus Nieder-Gortiz, dem heutigen Nishnjaja Chortiza, aus der Ukraine nach Novosibirsk in Sibirien zwangsumgesiedelt.
In der Heimat unserer Vorfahren
Unsere Tante Tina, Katharina Goerzen, und ihre Kinder Eleonore und Hans haben wir erst nach unserer Einreise nach Deutschland kennengelernt. Zuvor gab es nur Briefkontakte und einige Fotos. Nun sprachen wir immer wieder davon, dass wir mal Urlaub in der Ukraine machen sollten, um dort den Heimatort unserer Großeltern Katharina und Paul Neufeld zu besuchen. Eine Kusine von uns, Nina Boshko–Sesjomowa, lebt mit ihrer Familie noch in dem Dorf Nishnjaja Chortiza.
Nun war es so weit. Ende August machten wir drei, meine Schwester Nina, unsere Kusine Eleonore und ich, uns auf den abenteuerreichen Weg in das Dorf Nishnjaja Chortiza, das gegenüber der Stadt Saporoshje direkt am rechten Ufer des Dnjeprs liegt.
Sehr gespannt waren wir auf das, was auf uns zukommen würde, besonders aufgeregt war Eleonore, Lore, wie wir sie nennen. Als der Große Krieg, so nennen wir den Zweiten Weltkrieg, ausbrach, war sie erst drei Jahre alt.
Am Anfang planten wir zwar, Quartier in einem Hotel in der Stadt Saporoshje zu nehmen, aber das stieß auf solch ehrlichen Widerstand unserer ukrainischen Verwandten, dass wir uns schließlich entschieden, die zwei Wochen Urlaub in ihrem Hause zu verbringen. Von unserer Kusine Nina und ihrem Mann Leonid Sesjomov wurden wir sehr herzlich aufgenommen und mit köstlichem Essen verwöhnt. Noch nie im Leben zuvor hatten wir drei so viele Weintrauben, Birnen, Äpfel, Pfirsiche, Himbeeren zugleich gesehen und gegessen. Wir naschten von früh bis spät, zumal diese Köstlichkeiten allesamt im Garten vor und hinter dem Haus zu pflücken waren.
Wir wanderten durch das Dorf unserer Eltern und Großeltern auf den Spuren der Vergangenheit. Auf dem Friedhof suchten wir nach alten Gräbern, fanden aber nur ein paar verwitterte Grabsteine - die Inschriften waren unlesbar geworden. Seit über 70 Jahren bemühte man sich nun erfolgreich, alle Erinnerungen an die ehemaligen Kolonisten, die Umsiedler aus Deutschland, zu vernichten. Es sollte nichts an die Gründer des Dorfes erinnern, die vor über 200 Jahren aus der Danziger Gegend hierhergekommen waren und in der kahlen Steppe blühende Dörfer hatten entstehen lassen.
Unser Weg ging dann vom Friedhof aus in Richtung des Hauses unserer Großmutter. Diesen Weg soll unsere Tante Marus, die Mutter von der ukrainischen Kusine, auch genommen haben, als sie im August 1941 mit ihrem Mann Michail Boshko und den Kindern aus dem Nachbardorf zu ihrer Mutter, wie sie damals dachte, hierhergezogen ist.
Und dann führte uns die Kusine zum Hof, wo früher das Haus unserer Großeltern gestanden hatte. Von dem alten Haus ist wenig übriggeblieben, es wurde umgebaut, aber die Vorstellung, dass hier mal unsere Mütter im Vorgarten gespielt haben, dass unsere Oma hier auf der Bank im Vorgarten ihre Lieder gesungen hat, diese Vorstellung war sehr aufregend. Meine Schwester und ich erinnerten uns auch daran, wie wir im Sommer 1956 mit Oma hier gestanden und Birnen vom Boden aufgelesen haben. Ich musste wirklich mit Tränen kämpfen.
Einige Meter weiter ist die Hauptstraße des Dorfes. An der Ecke befindet sich immer noch ein Speicherhaus mit dicken Wänden, mit Metallgittern an den kleinen Fenstern und einem massiven Tor. Das Tor stand offen, als wir dort vorbeikamen und wir durften das Innere betreten. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, an dem Ort zu stehen, die Wände zu streicheln, an denen sich unser Opa Paul Neufeld vielleicht damals angelehnt hatte.
Nun erzählte uns die Kusine, eine Geschichte, die sie von ihrer Mutter gehört hatte.
Unser Großvater Paul Neufeld
In der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 1938 wurde unser Großvater Paul Neufeld in diesem Speicher zusammen mit 20 anderen Männern aus dem Dorf nach seiner Verhaftung von der NKWD, dem Staatssicherheit-Komitee, gefangen gehalten. Auch Michail Boshko, der Vater unserer Gastgeberin, stand anscheinend auf der Liste der Verdächtigen. Durch einen glücklichen Zufall war er in der besagten Nacht im Nachbardorf. Die Milizmänner trafen ihn also nicht an und nahmen vermutlich einfach einen anderen Dorfbewohner mit, denn die Zahl der Festgenommenen musste stimmen. Den Männern, die in dieser Nacht von Zuhause abgeholt wurden, warf man vor, Staatsverrat begangen zu haben.
In jener schrecklichen Nacht in diesem Speicherraum versuchte unser Opa seine verzweifelten Leidensgenossen immer wieder aufzumuntern, sie zu beruhigen, redete sich und ihnen ein, es sei nur ein Missverständnis, das sich am nächsten Morgen aufklären würde. Und als das nichts half, fing er an zu singen. Einer nach dem anderen schlossen sich seine Kameraden an. Sie sangen Kirchenlieder, obwohl dies zu Sowjetzeiten verboten war, aber Opa seien wahrscheinlich keine anderen eingefallen, oder es sei ihm in diesem Moment daran gelegen gewesen, trostspendende Lieder zu singen. Er hatte wohl eine schöne starke Stimme und bald konnten auch die vor dem Tor stehenden Wachposten den Gesang der Gotteslieder hören. Diese fanden es unerträglich, dass die Verhafteten sangen, noch dazu Kirchenlieder. Das konnten sie nicht dulden. Insbesondere befürchteten die Milizionäre, jemand aus dem Dorf könne es mitbekommen und sie bei ihren Vorgesetzten denunzieren, mit dem Vorwurf, sie hätten es versäumt, den eingesperrten Männern das Singen zu untersagen. Einer der Wächter hämmerte mit der Faust gegen das schwere Tor. „Aufhören! Sofort aufhören! Ruhe da drin!“ Aber der Gesang wurde nur stärker. Dann machten die Männer das Tor auf, einer ging herein und die drei anderen blieben im offenen Tor stehen, die Gewehre im Anschlag und auf die Gefangenen gerichtet. Es wurde still und nur Paul Neufeld, unser Opa, setzte sein Lied fort. Dafür bekam er mit dem Gewehrkolben einen heftigen Schlag ins Gesicht. Aus der geplatzten Lippe strömte Blut auf sein Hemd. Er wurde still. Nach diesem Vorfall haben seine Frau und die Kinder ihn nur noch ein einziges Mal zu sehen bekommen, und zwar am nächsten Morgen, als die verhafteten Männer aus dem Speicher heraus geführt wurden. Ein Lastwagen stand schon bereit und die Männer mussten aufsteigen. Die Familienangehörigen der Männer standen da und keiner wusste, was weiter geschehen würde. Es wurde nur bekannt gegeben, dass die festgenommenen Volksfeinde in die Stadt gebracht und dort die Ermittlungen durchgeführt würden. „Ich bin unschuldig! Es wird sich alles klären, und ich komme bestimmt bald nach Hause!“, wiederholte Opa immer wieder - wie auch die anderen Männer.
In langen Warteschlangen musste Oma mit anderen Frauen vor dem städtischen Gefängnis ausharren, um frische Kleidung und Nahrung für ihre Ehemänner bei der Annahmestelle abzugeben. Briefe waren verboten. Die Wachmänner an der Pforte gaben keine Auskunft über den Verlauf der Ermittlungen. Anfangs wurden die Bündel noch angenommen, irgendwann später hieß es – dem Gefangenen Neufeld Paul wurde jeder Kontakt zur Außenwelt untersagt. Seitdem hat die Familie nichts mehr von ihm gehört.
Nach dem Krieg forschte die Familie noch jahrelang nach seinem Schicksal und bekam schließendlich Ende 1959 einen Totenschein zugeschickt. Zur Todesursache war zu lesen: „Der Bürger Neufeld, Pavel Danilovitsch ist am 27. Mai 1943 an Kolitis gestorben.“ Erst nach fast siebzig Jahren erfuhr die Familie die Wahrheit über seinen Tod: Am 13. November 1938, das heißt neun Monate nach seiner Verhaftung, wurde er als mutmaßliches Mitglied einer nicht existierenden profaschistischen Organisation auf Beschluss der NKWD–Troika erschossen. Beide Sterbeurkunden sind auch heute noch im Besitz der Familie.
Mich ließen die wiederaufgefrischten Erinnerungen aus den alten Zeiten die nächsten Tage nicht los, wie auch andere Episoden aus dem Leben unserer Vorfahren. Stundenlang saßen wir vier um den großen Tisch auf dem Hof des Hauses und tauschten unsere Erinnerungen aus. Jede von uns wusste von den Eltern etwas anderes, und ich hörte nicht auf, Fragen zu stellen, besonders an meine Kusinen. Später, drei Tage vor unserer Abreise, kam dann auch noch die fünfte Kusine Vali, Valentina Warkentin, aus der russischen Stadt Tula hinzu, und die Gespräche wurden noch intensiver. Meine Schwester und ich hatten ja das größte Glück von uns allen, bei unserer geliebten Oma aufgewachsen zu sein, in der Kindheit ihre Lebensgeschichten gehört zu haben.
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